©Polina Goldberg

Unvollkommen herrlich

Unser Wissen über diese Stadt ist heute unverschämt begrenzt. Ein Umschlagplatz, ein Knotenpunkt, ein Hafen voller Fähren – eine schmutzige Metropole, deren einstiger Glanz als Seemacht längst verblasst ist. Vielleicht noch: Geburtsort von Christoph Kolumbus und Niccolò Paganini. Ihre Präsenz ist spärlich, und wenn sie sich zeigt, dann meist in dramatischer Weise. Ich lernte Genua als einen großen Hafen kennen, an dessen Docks man stundenlang auf die Einschiffung wartet. Die wehmütige Hafenromantik blieb mir einem Sandkorn gleich im Auge, nicht mehr nicht weniger. Gelegentlich tauchten diese flüchtigen Bilder in meinem Kopf auf, ohne dass ich ihnen große Bedeutung zuschrieb, bis es Jahre später zu einer neuen Begegnung kam. Leise und eindringlich sprach die Stadt diesmal in der Sprache derer, die Lob und Anerkennung selten erfahren und doch den Stolz still in sich tragen.

Am Horizont erblicken wir endlich die spiegelglatte, strahlende Fläche des Mar Ligure. Auf dem Wasser lässt sich ein einsames Segelschiff erkennen, weiß und regungslos ruht es unter der Mittagssonne. In der Weite ist der Himmel milchig-trüb. Für einen Moment scheint alles eine Abbildung mehr denn Wirklichkeit, als tauchten wir in eines der Gemälde von Friedrich oder Aiwasowski ein.

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„Ich will ans Meer!“ durchbricht unsere kleine Tochter die Stille. Wir setzen unseren Spaziergang fort. Schon lange sind wir unterwegs – zunächst durch dunkles Gassengewirr der Altstadt, dann entlang der kurvigen Boulevards, die sich übereinander gestapelt in die Höhe schlängeln, schließlich durch einen verwunschenen Park, der uns zur erhöhten Aussichtsterrasse führt, von der aus wir das Meer erblicken. Zum Wasser ist der Weg nun nicht mehr weit.

„Für einen Moment scheint alles eine Abbildung mehr denn Wirklichkeit, als tauchten wir in eines der Gemälde von Friedrich oder Aiwasowski ein.“

Wir steigen wieder hinab und betreten die größte Magistrale der Stadt. Sie führt zur Piazzale JF Kennedy, um dann entlang der Küste in die „Sopraelevata“, eine Schnellstraße auf Stelzen überzugehen. Das idyllische Meerespanorama zerstreut sich, dafür bietet sich dem Blick eine der größten Baustellen der Stadt dar. „Sind wir endlich am Meer?“ fragt unsere Kleine ungeduldig. Theoretisch ja.

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„Das idyllische Panorama zerstreut sich, dafür bietet sich dem Blick eine der größten Baustellen der Stadt dar.“

In absehbarer Zukunft werden die Einheimischen und Touristen hier auf einer grünen, von Palmen umsäumten Strandpromenade flanieren. Gedacht ist sie als Teil des „Waterfront di Levante“, einem der ambitioniertesten städtebaulichen Projekte der Stadt, das den visionären Geist der aktuellen Regierung zum Ausdruck bringt. Wie für zahlreiche Projekte zuvor, etwa den Umbau des „Porto Antico“ oder den Wiederaufbau der Morandi-Brücke (Polcevera-Viadukt) entwarf auch für diese architektonisch-landschaftliche Geste der Stararchitekt und gebürtiger Genuese Renzo Piano den Masterplan.

Bis dahin ziert das Grün des neuen „Parco della Foce“ die staubigen Baustellenplakate, die das riesige rohe Gelände vergeblich zu kaschieren versuchen. Mit etwas Mühe finden wir nach einigen Minuten einen Durchgang zum Wasser. Die Kleine blickt argwöhnisch auf die hier und da im dunkelgrauen Sand liegenden Plastikfetzen, modrigen Stoffreste und von der Sonne verkohlten Hundehaufen. Die große Vision ist noch nicht Realität geworden.

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Diese Dualität ist in Genua besonders ausgeprägt. Die Stadt, deren Charakter und Bausubstanz von geologischer Enge, der Rivalität und Sparsamkeit ihrer mittelalterlichen adeligen Machthaber und den ökonomischen Umbrüchen der Neuzeit bestimmt sind, setzt den Besucher einer Art Wahrnehmungsschaukel aus: Uringeruch und Focacciaduft vermischen sich wie finstere Gassen und erhabene Palastreihen, herabfallender Putz und verschnörkelte Fassaden, Glanz und Elend, Stagnation und Wandlung, Verharren in alten Strukturen und Weitblick.

„Uringeruch und Focacciaduft, finstere Gassen und erhabene Palastreihen, herabfallender Putz und verschnörkelte Fassaden, Glanz und Elend, Stagnation und Wandlung.“

In diesem Dilemma, das längst zu Genuas Identität geworden ist, finde ich mich gut wieder. Es weckt Erinnerungen an Dostojewkis Sankt Petersburg, wie ich es aus meiner Kindheit kenne: Wenn jede Prachtstraße einen düsteren Zwillling hat, hinter klassizistischen Fassaden ein dunkles Hofgewirr auftaucht und der frische Wind von der Neva sich mit den toxischen Abgasen der vielbefahrenen Straßen mischt.

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Beim Schlendern durch Genuas Altstadt entsteht der Eindruck, nie wirklich anzukommen und kein klares Ziel zu finden. Das Gefühl der Verlorenheit im mittelalterlichen Kern hat ihren Ursprung in der Entstehungsweise des öffentlichen Raumes. “Die heftig untereinander konkurrierende Handelsaristokratie hatte eine andere Form städtischen Raumes produziert: den über die ganze Stadt verstreuten kleinen aristokratischen Privatplatz, der jeweils von einer Familie geprägt wurde und das umliegende Stadtgebiet beherrschte.”, erklärt Dr. Harald Bodenschatz, Assoziierter Professor am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. An der Piazza di San Matteo etwa, deren Gestaltung eine der wohlhabendsten Familien der Stadt, die Doria, in der Hand hatte, kann man sich davon überzeugen lassen.

„Die Tatsache, dass das alte Genua kein wahrnehmbares, architektonisch geformtes Zentrum aufwies, mache sie in ihrem Kern zu einem Patchwork, auch bis in die heutige Zeit.“

In seinem Essay “Genua – Kulturhauptstadt Europas 2004” wirft Harald Bodenschatz einen Blick auf die historischen Gegebenheiten, die das urbane Gesicht der einst mächtigen Seerepublik formten: “Die vielleicht wichtigste Besonderheit ist die Beschränkung und Verteilung des öffentlichen Raumes. Genua hatte im Mittelalter zwar drei heute noch erlebbare Marktplätze (San Giorgio, Banchi und Soziglia) von eher bescheidener Dimension, aber kein eindeutiges Zentrum mit prächtigem Rathaus und einer Piazza Maggiore.” Die Tatsache, dass das alte Genua kein wahrnehmbares, architektonisch geformtes Zentrum aufwies, mache sie in ihrem Kern zu einem Patchwork, auch bis in die heutige Zeit.

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So sehnt man sich nach dem Hin und Her im alten Kern nach einem Ausbruch. Verlässt man die Häuserschluchten, die zu erdrücken drohen, offenbart sich zum Osten hin die neue Stadtlandschaft: Zunächst im 16. Jahrhundert durch die einflussreichen Familien gestaltet (die denkmalgeschützten “Strade Nuove”) und im 19. Jahrhundert kontinuierlich durch die Bourgeoisie geformt.

Auch hier erstaunt der Kontrast, diesmal auf der Ebene der Dimension. Die plötzlich immer breiteren großbürgerlichen Avenues, die ungewöhnlich geradlinige Bebauung und das Auftauchen städtischer Ensembles – all dies erreicht den Höhepunkt womöglich rund um die Piazza Vittoria. Kaum verwunderlich, denn diese imposante Gestaltung wurde in den Zeiten des Faschismus geplant, als Architektur, gern in Überdimension, zur materiellen Sprache der Macht wurde. Diese Genua scheint eine andere Stadt, hier ist kaum etwas von der historischen Mitte zu spüren.

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„Die Augen brauchen Zeit, um die Fülle an Details zu erfassen, geschweige denn sie einzuordnen. Denn auch Fassaden sind häufig wie Patchworks, die stillschweigend über Epochen und Baustile berichten.“

Hier angekommen, ziehen die verborgenen Schätze der alten Stadt erneut in ihren Bann. Zurück zu den noch unentdeckten kleinen Plätzen, Kirchen, Kreuzgängen, dort wo die Augen Zeit brauchen, um die Fülle an Details zu erfassen, geschweige denn sie einzuordnen. Denn auch Fassaden sind häufig wie Patchworks, die stillschweigend, aber umso faszinierender über Epochen und Baustile berichten. Im groben Bossenwerk des Mittelalters wurden mit einer unerhörten Leichtigkeit neoklassizistische Elemente eingekerbt, während einstige Fenster- und Türbögen der Renaissance durch moderne Öffnungen durchbrochen wurden. Diese Details zeugen von “…der Gewohnheit, auf den vorhandenen, oft recycelten Materialien zu bauen, die aus früheren Bauten wiedergewonnen wurden…” (www.visitgenoa.it/de). Diese beinahe wilde Mischung hält den Blick und den Kopf wach, wirkt authentisch und unverschämt ehrlich.

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Genua scheint trotz der Wandlungen und Brüche oder vielleicht genau deshalb ihren stolzen und widersprüchlichen Charakter nicht eingebüßt zu haben. Neue Entwicklungen schleichen sich ungleichmäßig und eher leise ein. Selbst die großen Gesten wie die Umwandlung des Porto Antico bringen nicht den Rum von Barcelona oder Bilbao mit sich. Etwas fehlt hier – vielleicht der Tradition der Sparsamkeit geschuldet – und genau das macht die Stadt so unwiderstehlich und die Lust auf Entdeckung hier umso größer. Der Geist kann sich hier wunderbar bei Streifzügen und unerwarteten Funden entfalten: Kein Boom, keine künstlichen Concept-Stores-Straßen, kein Zuckerguss-Stadtmarketing, stattdessen eine unperfekte Menschlichkeit.

„Etwas fehlt hier, vielleicht der Tradition der Sparsamkeit geschuldet, und genau das macht die Stadt so unwiderstehlich: Menschlichkeit statt Zuckerguss-Stadtmarketing.“

©Polina Goldberg

Obwohl unser Strandgang sich als Besuch auf einer Baustelle entpuppt hatte, möchte unsere Tochter sich das Meer nicht so schnell entgehen lassen. Diesmal soll es der Hafen sein, mit seinem stillen, dunkelblauen Wasser, den ehemaligen Industrie- und heute Flanierdocks, der immer leicht beschlagenen Biosfera von Piano, dem Wald an weißen Segelschiffsmasten und den alten, einsamen Industriekränen. Insgeheim habe ich den Hafen ohnehin zu meinem Lieblingsort auserkoren. Der Anblick der Kräne, Dauerbegleiter meiner Kindheit und die Synthese der rauen Stadtmaterie mit dem Wasser lassen mein Herz schneller schlagen.

„Insgeheim habe ich den Hafen ohnehin zu meinem Lieblingsort auserkoren. Bein Anblick der Kräne, Dauerbegleiter meiner Kindheit, schlägt mein Herz schneller.“

Wir fühlen uns hier bestens in der Kompanie der Grandi Navi Veloci und der Frachtschiffe mit ihren Containerstapeln, die aus der Ferne farbenfrohen Spielzeugblöcken ähneln. Zum Abschied nehmen wir auf der „Isola delle Chiatte“ Platz. Diese schwimmende Struktur aus umfunktionierten Lastkähnen liegt mitten im flüssigen Herzen Genuas, doch gleichzeitig hat dieser Ort etwas vom Ende der Welt. Fest und doch schwebend, ohne klare Struktur ist es nur eine Andeutung von Raum im Freien.

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Hier, wo die Geräusche der Stadt verstummen und das Treiben des Hafens zur leisen Hintergrundmusik wird, fühlt sich plötzlich alles richtig an – im Hier und Jetzt, mit allen Unebenheiten, Fehlern, Rissen und Wunden, mit allen Glücks- und Erfüllungsmomenten, sowohl für die Stadt als auch für sich selbst. Es ist ein Gefühl von unvollkommener Perfektion, von einer Harmonie der unauflösbaren Kontraste, die Genua auf eine ganz bescheidene Art und Weise, wie vielleicht keine andere Stadt es kann, vermittelt.