©Polina Goldberg

Sinn und Einsicht in Pomaia

Wir sprechen lange mit ihr: über die Offenheit kleiner Kinder und die Besonderheit des Ortes, an dem wir uns gerade befinden. Wir scherzen über scheinbar Belangloses und Alltägliches. Um ihre klugen Augen zeichnen sich immer wieder feine Lachfältchen ab. Im purpurroten Gewand, leicht gebeugt und mit kurzgeschorenem Haar wirkt sie trotz ihres Alters wach und aufmerksam. Unsere scheue Tochter versteckt sich diesmal nicht hinter Mamas Bein. Sie blickt direkt in die Augen der Mönchin, die hier im Istituto Lama Tzong Khapa, einem der wichtigsten buddhistischen Zentren Europas, lebt.

©Polina Goldberg

Nachdem sie sich mit einem Winken von uns verabschiedet hat, schreitet sie über den mit Kies bedeckten Hof, vorbei am kräftigen Orangenbaum und hinunter zu den Holzhäuschen, die sich am Hang eines ans andere klammern. Wir sind zum Lernen hier, genauer mein Mann: Er nimmt an einem Anfängerkurs teil, der die Grundlagen der Meditation im Tibetischen Buddhismus vermittelt. Und weil wir gern gemeinsam reisen, sind Tochter und ich dabei.

„Selten fährt ein Auto an uns vorbei, sonst ist es still. Und diese Stille fesselt: Die Luft ist gefüllt mit Vogelgezwitscher, dem Rascheln der Baumzweige, meinen eigenen Schritten.“

Pläne für diesen Aufenthalt gibt es keine. Pomaia ist ein Dorf mit knapp 200 Einwohnern. Außer der Hauptstraße mit Allerleiladen, Bar, Post und Tabaccheria schlängeln sich die wenigen Gassen allesamt aus dem Ort hinaus in die hügelige Landschaft. Über eine davon, die Via Poggiberna, laufe ich mit meiner Tochter am ersten Morgen vom Hotel hierher. Selten fährt ein Auto an uns vorbei, sonst ist es still. Und diese Stille fesselt: Die Luft ist gefüllt mit Vogelgezwitscher, dem Rascheln der Baumzweige, meinen eigenen Schritten. Ich sehe mich um, atme.

©Polina Goldberg

Begleitet von neugierigen Blicken der Einheimischen legen wir eine Kaffeepause in der Dorf-Bar ein und begeben uns zum Institut. Die Symbiose von toskanischem Wald und tibetischer Architektur überrascht. Gleich am Eingang stimmt der Toranabogen auf die sakrale Atmosphäre ein. Wir gehen zwischen seinen bunten Stützpfeilern mit vergoldeten Inschriften hindurch und gelangen in den Garten, der sich auf einer Anhöhe um eine alte Herrenvilla ausbreitet. 1977 von einer Mailänder Familie erworben und rekonstruiert, beherbergt das Gebäude seitdem das Istituto Lama Tzong Khapa. Mit dem Besuch des Dalai Lama im Jahr 1982 erhielt es die höchste Weihe. Seitdem zieht es als internationale Einrichtung für das Studium und die Praxis des Buddhismus immer mehr Menschen an.

Die weißen Stupas, die Gebetsfahnen und die täuschend echten Statuen buddhistischer Mönche ziehen meine Tochter magisch an. Sie dreht und dreht die farbenfrohe Gebetsmühle, kreist um die bizarren Tierfiguren, will am liebsten ihre Finger ins Wasser der Opferschalen eintauchen. Außer uns ist niemand hier. Unter den Füßen knirschen die Kieselsteine, in der Ferne plätschert ein Springbrunnen.

©Polina Goldberg

Anders als sonst bewege ich mich ohne Hast. Die Verbindung von all dem, was ich sehe, rieche und spüre hält mich sanft zurück. Es scheint, als würde die fließende Energie der Meditierenden, Lehrmeister und Mönche sich über den Ort ausbreiten und alles in Besinnung eintauchen. Ich setze mich auf einen der niedrigen Hocker im Teegarten und beobachte wie meine Tochter einen Gegenstand nach dem anderen erkundet. Ich hebe den Blick zu den wogenden Baumkronen, lausche dem Surren der Insekten, dem Rauschen des Windes. Das Ticken der allgegenwärtigen Uhr ist nicht mehr zu hören.

„Als würde die fließende Energie der Meditierenden, Lehrmeister und Mönche sich über den Ort ausbreiten und alles in Besinnung eintauchen.“

Plötzlich geraten die Kieselsteinchen ins Rollen. Einer nach dem anderen treten die Kursteilnehmer aus der Tür des Hauptgebäudes hinaus, der Garten füllt sich. Es ist Zeit zum Abendessen. Mein Mann ist nachdenklich und ich lasse ihn schweigend aus dem riesigen Panoramafenster der Kantine auf die Landschaft blicken. Auch unsere Tochter drückt das Näschen dicht ans Glas und sieht verträumt zu: Die Hügelwellen tauchen in ein sanftes Orange ein, das in Flieder, Violett und dann Indigo übergeht. Es ist frisch, wenn wir hinausgehen. Über dem Hof hängt der Vollmond. Wenige Autos überholen uns auf der Via Poggiberna. In ihrem grellen Scheinwerferlicht sehen wir jedes Mal unseren Schatten sich ins Unendliche ziehen.

©Polina Goldberg

„In fließende Gewänder gehüllt blickt der Buddha des Mitgefühls weit über uns in eine Ferne, die wir kaum fassen können.“

Am letzten Tag haben wir Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang über die Anlage. Ein kräftiger Wind zieht auf, die Sonne linst durch die rauschenden Ästen. Einer der Mönche dreht Kreise um die Stupa-Reihe. An ihm vorbei steigen wir zu einer weitläufigen Wiese hinab, wo sich uns der Buddha des Mitgefühls offenbart. Erst nach unserem Besuch erfahren wir, dass diese sieben Meter hohe Gestalt mit vier Armen einem Filmset entstammt: Sie wurde 1996 für „Kundun“ von Martin Scorsese geschaffen. Obwohl anfänglich nicht geplant, wurde die Statue Jahre später für einen Besuch des Dalai Lama nach Toskana transportiert und restauriert. In fließende Gewänder gehüllt blickt der Chenrezig weit über uns in eine Ferne, die wir kaum fassen können.

Nachdem unsere Tochter im angrenzenden Laden Postkarten aus Seidenpapier ausgesucht hat, betreten wir zum letzten Mal den Institutshof. Die Kleine schlurft über die Kieselsteine, unwillig zu gehen. Über uns rauschen die Äste, die bunten Gebetsfahnen zittern bei jedem Windstoß. Dann erkennen wir in der Weite an der gebeugten Haltung und dem purpurnen Gewand die alte Mönchin, die wir am Tag zuvor kennengelernt haben. Sie winkt und grüßt uns mit ihrem verschmitzten Lächeln.

©Polina Goldberg

Der Toranabogen bleibt weit hinter uns, als wir zum letzten Mal die Via Poggiberna entlanglaufen. Der Wind wirbelt den Staub auf. In den alten Olivenbäumen am Wegesrand rascheln kleine Amseln. Bald packen wir unsere Koffer und fahren zum Bahnhof, steigen in die Frecciarossa und entfernen uns mit jedem Kilometer von Pomaia.

„Drehen wir uns nicht jeden Tag um uns selbst wie die bunte Gebetsmühle?“

Während wir an den Hügeln und Tälern vorbei rauschen, frage ich mich, ob unser Alltag mit seiner Normalität und Monotonie im Grunde nicht genauso ist wie dieser besondere Ort und ob es nicht von unserer Sichtweise abhängt, wie wir ihn wahrnehmen. Drehen wir uns nicht Tag ein, Tag aus um uns selbst wie die bunte Gebetsmühle? Vielleicht bin ich noch von der Eintracht erfasst, vielleicht wird mich die Rückkehr mit Tempo, Druck und Forderungen überwältigen. Der Besuch des Istituto Lama Tzong Khapa hinterlässt jedenfalls den Eindruck, dass beide Welten eins sind und ich dieses Wissen noch lange in mir tragen werde.

©Polina Goldberg