Ganz seriös, nur anders

Im Juli 2005 habe ich an einem musischen Gymnasium in Nürnberg mein Abitur gefeiert. Als ich auf das Podium hinaufging, um mein Abschlusszeugnis entgegenzunehmen, wurde „Je t’aime tant“ von Julie Delpy abgespielt. Ich hatte ein grünes, fließendes Kleid an, lange offene Haare und hohe Absätze. Ich war voller Träume und fühlte mich frei.

Ich war auch voller Sehnsucht nach sinnvollen Aufgaben und neuen Erfahrungen. Ich suchte nach einem Ort, der mir das geben könnte, was einst Sankt Petersburg, die Stadt in der ich geboren wurde, für mich gewesen ist: Weite, Größe, poetischer Raum.

„Warum ich mich trotzdem für ihn entschieden habe? Vielleicht aus dem Wunsch heraus mir selbst zu beweisen, dass ich seriös sein kann.“

Kultur, Geschichte, Literatur – so sah der Kreis meiner Interessen aus. Der Ingenieurstudiengang Stadt- und Regionalplanung spiegelte diese nur zum Teil wider. Warum ich mich trotzdem für ihn entschieden habe? Vielleicht aus dem Wunsch heraus mir selbst zu beweisen, dass ich, geisteswissenschaftlich veranlagt, auch mal anders kann. Seriös sein kann. Meiner Wahl lag auch der langersehnte Wunsch nach einem Ortswechsel zugrunde: Die Millionenstadt Berlin versprach die Sehnsucht nach meiner Heimatstadt stillen zu können. Das war der erste Kompromiss mit mir selbst und ich zu jung und unerfahren, um mir die Schwäche im Fundament einzugestehen.

©Polina Goldberg
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Schnell füllte sich mein Universitätsalltag am Planungsinstitut mit Tristesse. Als hätte ich nicht die passenden Eigenschaften, um mich in dieses Gebilde reibungslos einfügen zu können. Im Laufe der Zeit lernte ich mich anzupassen und weitere Kompromisse mit mir selbst einzugehen. Ich suchte nach dem, was mich begeistern konnte – Denkmalpflege und Soziologie – und ließ alles weitere über mich ergehen. Und ich fand wenige Verbündete, die ähnlich fühlten.

So fand ich mich als diplomierte Ingenieurin vor der Entscheidung wieder: Wohin jetzt? Zugegeben, damals verspürte ich noch den Stolz, mir selbst mit dem Titel bewiesen zu haben, dass ich „seriös“ sein konnte. Nur wozu war es wirklich gut? Es diente nicht meinen wahren Interessen und Wünschen. Einmal mehr spürte ich das Wackeln der Kompromiss-Konstruktion.

„Nur wozu war es gut? Es diente nicht meinen wahren Interessen und Wünschen. Einmal wieder spürte ich das Wackeln der Kompromiss-Konstruktion.“

Eines, das ist sicher, habe ich gelernt: gut zu filtern. Das trug sich auf die Auswahl meiner Jobs und Aufgaben über. Zur Hälfte stellte ich mich zufrieden und den Rest blendete ich aus. Ich schrieb gern, also schrieb ich über Architektur und Urbanismus. Ich kommunizierte gern, also übte ich die Kommunikation in der PR. Und fühlte mich immer etwas fehl am Platz, vielleicht genau zur Hälfte.

Instabile Konstruktionen geraten früher oder später meist aus dem Gleichgewicht, es ist nur eine Frage der Zeit. Ich kündigte den ersten Job und suchte nach etwas Besserem. Da die Methoden meiner Suche aber die gleichen blieben, wunderte ich mich vergebens erneut in ähnliche Situationen zu geraten. Und kündigte erneut.

Nach außen mochte ich den klassischen Erfolgsweg vermitteln, verdiente gut und gab das Geld für zahlreiche Aperitifs mit Freunden aus. Innerlich begann ich zu spüren, dass mich der endlose Kompromiss ruinieren würde, sollte ich nicht etwas ändern. In dieser Dauerschleife lief meine innere Lebendigkeit Gefahr langsam, aber stetig abzusterben. Unzufriedenheit, Unruhe und Rastlosigkeit wurden zu meinen ständigen Begleitern.

„In dieser Dauerschleife lief meine innere Lebendigkeit Gefahr langsam, aber stetig abzusterben.“

Dann wurde ich schwanger und blieb ganz ohne Job. Ich fiel in ein Loch. Plötzlich war ich auf eine seltsame, unerwartete Weise frei. Diese Freiheit fühlte sich gut an. Im Nachhinein weiß ich, dass es die nötige Auszeit war, die alle weiteren Entwicklungen nach sich zog. Eine Zeit, in der ich mich endlich neu kennengelernt habe, ohne nach vorne zu rennen. Die Hinwendung zu sich selbst, das Hören eigener Gedanken und Wünsche, die Reflexion und das Verständnis, Entscheidungen bewusst zu treffen und nicht herbeiführen zu lassen – ich habe mir Dinge angeeignet, die genauso viel wert sind wie mein Diplom-Ingenieur-Abschluss.

In diese Zeit fiel auch die Entscheidung auszuwandern. Berlin, die Stadt in die ich aus Nürnberg geflohen bin, hatte nach vielen Jahren den Reiz gänzlich verloren. Jung und wild konnte ich eine Zeitlang im Einklang mit dieser Stadt voller Brüche leben. Geerdet und mit einer Familie sahen mein Mann und ich uns hier nicht mehr – Mailand war das nächste Ziel.

©Polina Goldberg
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Fragil wie Glas und zart wie Knospen war der neue Weg, der sich in mir langsam entwickelte. Was war es noch einmal, was mich bewegte und begeisterte? Was liebte ich einmal, wofür wachte ich gern auf? Zunächst schien mir, als müsste ich wahnsinnig viel nachdenken. Hinter dem Schleier aus gelernten Grundsätzen und Überzeugungen ließen sich einfache Tatsachen nicht mehr wahrnehmen.

Ich begann mich mit psychologischen Ansätzen und Praktiken zu beschäftigen. Ich schrieb viel, sprach mit meinen engsten Vertrauten, fand Menschen, die den Mut zu einem ehrlichen Umgang mit sich und ähnlichen Situationen an den Tag legen. Ich erlaubte mir eine neue Sicht auf Dinge und wagte es erneut zu träumen.

Nach und nach wurde mir klar, dass ich es doch schon immer wusste. Schreiben und lesen. Kulturen kennenlernen, Erfahrungen sammeln, reisen. Schönheit sehen: in der Natur, in neuen Städten, in Architektur und in Büchern. Sprechen und Zuhören. Dem Gegenüber Aufmerksamkeit schenken und Lösungen finden.

„Schreiben und lesen. Kulturen kennenlernen, Erfahrungen sammeln, reisen. Schönheit sehen. Sprechen und Zuhören. Aufmerksamkeit schenken und Lösungen finden.“

Mittelmäßige Kompromisse möchte ich mit mir selbst nicht mehr eingehen. Was daraus entstehen mag? Genau weiß ich nur eines: Bewegung setzt Prozesse in Gang, Schritte führen unweigerlich weiter. Wenn man kein Sklave seiner Ängste und gelernten Grundsätze ist, kann man Schönes in Unbeständigkeit sehen, im Wandel, in der Transformation. Transformationsprozesse bilden meinen Kern, zeigen mir neue Wege, lehren mich. Ich schreibe über all das, was mich bewegt und formt. Alles, was mir geholfen hat, mit Ängsten und lähmenden Sehnsüchten umzugehen. Alles, was den Wandel antreibt und mich lebendig fühlen lässt.

©Polina Goldberg