Das Leben auf Slow Motion
Es ist wie ein Slow Motion Video. Millimeter für Millimeter schiebt sie sich über die dünne Efeuranke auf dem Stein. In äußerster Konzentration streckt sie ihre Fühler weit nach vorne. Kurz schwankt ihre fein geschwungene Schale zur linken Seite, doch bringt sich das Tier elegant in eine gerade Haltung zurück. Mühsam, aber zielsicher fliest es über die kleine Hürde auf dem Weg, bis es auf der anderen Seite ist.
Ich sehe hypnotisiert zu und kann den Blick nicht abwenden. Ihre Bewegung hat etwas Kontemplatives und Beruhigendes. Ihr langsames Vorwärtskommen ist so faszinierend, dass ich selbst den Schritt verlangsame. Ich bleibe stehen, ich beobachte. Es gibt plötzlich nichts außer dieser kleinen Schnecke um mich herum. Wie viel kann man in solchen Momenten lernen, würde man es zulassen?
„Ich bin eine Woche am Meer, ich darf also ganz offiziell langsam sein. Vielmehr zwinge ich mich in den ersten Tagen dazu.“
Ich bin eine Woche am Meer, auf meiner Etikette steht in dicker Schrift „Urlaub“ geschrieben. Ich darf ganz offiziell langsam sein. Vielmehr zwinge ich mich in den ersten Tagen dazu, denn, frisch angekommen, bin ich noch allzu gebunden an Telefon, Nachrichten, Mails. Aber die Landschaft nimmt mir langsam den Schwung aus den Segeln. Das Wasser entspannt den Blick, die Wellen streicheln sanft über die Haut. Der Sand wärmt die Füße, die Sonnenstrahlen schließen die Augenlieder. Das Natürliche holt mich mit einer Kraft zurück, der ich kaum widerstehen kann.

Doch bin ich nicht immer am Meer – ich lebe in einer Millionenstadt. Statt Schnecken am Wegesrand zu beobachten, lese ich in meinen freien Minuten den nächsten Online-Artikel zur Mindfullness und Slow Life, sehe mir das nächste stilisierte Video mit 10 besten Minimalismus-Tipps an. Während ich lese, höre oder schaue, kommt Begeisterung auf: Ich sehe mich schon im Lotussitz, höre meinen ruhiger werdenden Atem und nehme ein zufriedenes Lächeln auf meinem Gesicht wahr. Die Vorstellung beglückt das Gehirn: Ich nehme mir ehrgeizig vor, mehr im Einklang mit mir selbst zu sein, mehr Zeit für die Körperpflege und gutes Essen zu nehmen, Yoga zu üben, ein Papierbuch zu lesen. Dann irgendwann.
„Ich lebe aber in einer Millionenstadt. Statt Schnecken am Wegesrand zu beobachten, lese ich in meinen freien Minuten den nächsten Online-Artikel zur Mindfullness und Slow Life.“
In Wirklichkeit sitze ich in einer Haltung, die an den kauernden Knaben von Michelangelo erinnert, und scrolle, eines nach dem anderen, hübsche Fotos auf meinem Bildschirm. Digitale Tipps zum bewussteren Leben funktionieren bedingt: Ich merke, dass meine Augen vom Bildschirmlicht müde werden und der gebeugte Hals schmerzt, husche ins Bad, räume hastig auf, ärgere mich beiläufig darüber, dass ich wieder zu wenig Zeit habe, schnappe meine Tasche und renne schließlich mit halb offenem Mantel aus dem Haus. Auf dem Weg ziehe ich mir Handschuhe und Mütze an. Der Atem macht dabei Zickzack. Schnellen Schrittes steuere ich mein Ziel an – Arbeit, Supermarkt, Arzt, Bank, Post… Wo ist da noch Raum für Schnecken?

In ihrem Buch “Wintering. The power of rest and retreat in difficult times” zeigt Katherine May den Zwiespalt zwischen dem vermeintlichen Muss und dem eigentlichen Möchte sehr treffend: “I have used up all my energy just to see this, and it’s worth it. But how could I ever justify that to the outside world? How could I ever admit that I chose the muffled roar of starlings over the noisy demands of the workplace?” Oft zwingt uns die Angst vor einer urteilenden Reaktion in das rastlose Hamsterrad. Und wir rennen. Doch nach einer Rennstrecke verweigert unser Gehirn alles Weitere außer der Trance, in die er beim Bildschirm-Scrollen verfällt.
„Oft zwingt uns die Angst vor einer urteilenden Reaktion in das rastlose Hamsterrad. Und wir rennen. Doch nach einer Rennstrecke verweigert unser Gehirn alles Weitere außer der Trance, in die er beim Bildschirm-Scrollen verfällt.“
Katherine May, vom Arbeits- und Lebensalltag dauergestresst und entkräftet, fällt unweigerlich in den „Winter“ hinein, der metaphorisch für eine langsame, nachdenkliche, dunklere Lebenszeit steht. Eine natürliche Phase der Regenration, die uns allen eigen sein sollte, so wie sie der Natur und den Tieren eigen ist. Nur, dass wir sie unglaublich gern wegschieben, übersehen oder so tun als ob es sie nicht gäbe. Aus unterschiedlichen Gründen können oder wollen wir nicht zu unserer Langsamkeit stehen – wir schämen uns eher dafür, sicher auch aus (prä-)historischen Gründen. Und wer möchte schließlich das Phlegma in sich offenbaren?
Gesünder wäre es vielleicht, alle unsere Gemütsanteile zuzulassen zu akzeptieren. Doch bleibt unser Verhältnis zur Ruhe und Langsamkeit zum großen Teil noch negativ behaftet. So ertappte ich mich häufig beim Gedanken, dass ich nur gut bin, wenn ich renne. Meist war dabei das Ziel zweitrangig und das Resultat miserabel: ich war einfach nur schnell, ohne Zweck, ohne Sinn, ohne Freude. Und ich machte mir vor, dass dunkle Augenringe, Kopfschmerzen, gereizte Haut und Apathie am frühen Morgen einfach dazu gehören.

Interessanterweise kam die Schnecke, die ich beobachtet habe, an ihr Ziel, im Zeitlupentempo. Es muss viel Zeit vergehen, bis mir der Zusammenhang zwischen der Molluske und mir bewusst wird: ich bin so wie sie. Langsam und konzentriert, sensibel und weich, gleichzeitig mit einem harten Gehäuse ausgestattet. Noch mehr Zeit kostete es mich zu akzeptieren, dass ich dann ans Ziel kommen kann, wenn ich aufhöre zu rennen und zu stolpern, wenn ich mich in meinem eigenen Tempo bewege.
„Es muss viel Zeit vergehen, bis mir der Zusammenhang zwischen der Molluske und mir bewusst wird:
ich bin so wie sie.“
Das Beobachten, die Ruhe, die Pausen sind eben gut für den Alltag, nicht nur für die Urlaubswoche am Meer. Als Kleinkind saß ich gern stundenlang auf dem Fenstersims und beobachtete die in der Weite vorbeifahrenden Autos, das Schweben der Möwen, das schimmernde Licht der im Wasser untergehenden Sonne. Heute ist es eine Minute mehr für das Frühstück, eine kleine Yoga-Übung morgens, ein weiterer Blick auf den Himmel anstatt auf den Bildschirm, ausgedehntere Körperpflege, fünf Minuten für ein gedrucktes Buch, ein kurzer Spaziergang. Meistens zumindest.
Die bewusste Verwendung der Slow Motion-Einstellung im Leben kreiert paradoxerweise die nötige Energie für wirklich turbulente Zeiten. Zeiten, die viel (Seelen)Kraft abverlangen, sei es Umzug, Auswanderung, Arbeitswechsel, Geburt der Kinder, ja auch Krankheit oder Verlust. Einiges kann man sich dabei von den Schnecken abschauen, wenn man es denn zulässt.


Polina Goldberg
Ich bin Beraterin für persönliche Transformation, Expertin für Kommunikation und Autorin.